Der Schaukelsessel Nr 5 von Thonet hat keine Armlehnen und fällt durch seine schmale Form auf, die ihn schlank und hoch erscheinen läßt. Offensichtlich war er für die Damenwelt gedacht, deren üppige Röcke von den Armlehnen zu sehr gestaucht und eingeengt worden wären. Man denkt sogar an die Krinolinenzeit im späten 19. Jahrhundert. Wie hätte wohl Kaiserin Elisabeths Kleid ausgesehen, wenn sie aus einem Schaukelstuhl mit Armlehnen aufgestanden wäre.
Die schlichte Linienführung in der Seitenansicht wird nur durch die kleinen Spiralen von Handgriff und Schnörkel über der Kufe aufgelockert. Die Seitenfläche ist in gleichwertige Leerflächen aufgeteilt, zu denen man auch den Bereich hinter dem Stützbogen zählt. Keine weiteren Details stören diese einfache Harmonie.
Die Konstruktion kommt ohne untere Queraussteifung aus, die geraden Querstangen zwischen den Kufen können dazu nichts beitragen und sind reine Abstandhalter. Etwas inkonsequent ist die Anordnung des hinteren Stützbogens, der sich mit einer langen anschmiegenden Leimfuge dem Hauptholm anschließt, während dieser sich mit modernerer Erkennbarkeit vorne auf die hochgebogene Schaukelkufe legt und als separates Bauteil zeigt. Hier hat Thonet sein montagefreundliches Prinzip der getrennten Bauteile noch nicht vollständig durchgeführt. Der ungestörte Fluss der Linien ist ihm wichtiger.
An späteren Schaukelsesseln wird der Stützbogen als selbständiges Bauteil erkennbar werden. Auch die Querstangen werden bald so geändert, dass sie in den Zwickeln der Seitenteile liegend mit langen Schrauben durchgehend eingespannt werden und so zur Queraussteifung beitragen. Dennoch bleibt allen Modellen ohne untere Queraussteifung durch ein eigenes Bauteil eine gewisse seitliche Beweglichkeit, die nur mit maximal angezogenen Schrauben des Sitzrahmens zum Hauptholm beherrschbar bleibt. In Folge dieses Mangels im Entwurf gibt es an genau diesen Schrauben die meisten Reparaturen zu machen. Es ist die alte Regel, dass eine durch Linienführung erreichte Stabilität jeder durch Einspannung und steife Ecken bewirkten immer überlegen bleibt. Da hilft auch kein Schraubenzieher mit Sechskant, der mit einem Mutternschlüssel kraftverstärkend gedreht werden kann.
Mein erster Schaukelsessel Nr. 5 war ein Kriegsinvalide, der oben herum abgebrannt war, sodass die den Rücken tragenden Holme dicht über dem Stützbogen abgesägt waren. Auch das kleine Oval zwische Sitz und dem gewesenen Rücken war weg. Ein charmanter Schaukelhocker war übrig geblieben und zeigte immer noch seine harmonische Seiteneinteilung. Aus der damals verfügbaren Katalogliteratur konnte ich die Höhe des Rückens berechnen und wagte mich an eine Wiederherstellung des Amputats. Eine in der Höhe passende Rückenlehne wurde durch präzise Schnitte, die den Flechtlochabstand beachteten, auf das schmale Maß reduziert und das gleiche Opfer lieferte auch die anzusetzenden Holme mit den kleinen Griffspiralen. Da der geplünderte Organspender größer und kräftiger gewesen ist, mußte alles in den Profildurchmessern reduziert werden, eine höllisch genaue Raspelarbeit, die von ebenso teuflischen Schleiftagen abgelöst wurde, ließ die Ersatzteile schlanker werden, sodaß endlich alles verleimt, geschliffen, gebeizt, mattiert und neu geflochten werden konnte.
Kaufmännisch war das höchst sinnlos, ja schon geisteskrank, aber was macht man nicht alles zur Rettung von Kulturgut, besonders, wenn man so ein Möbel noch nie gehabt hat. Der sportliche Ehrgeiz, ob man es wohl könne, tat ein Übriges und der Krinolinenschaukelsessel stand makellos vor dem sogar selbst staunenden Restaurator. Später – anfangs der 80er Jahre – ging das Schmerzensstück an Phillip Cutler, den Einkäufer von Lord & Taylor, einem New Yorker Luxuskaufhaus, das sein Image durch Antiquitätenausstellungen aufpolierte. Bei mir fanden sie viele ihrer Exponate…
Phillip machte sich nichts daraus, dass etwa 40 % des Schaukelsessels später hinzugekommen war, solange er es nur korrekt deklariert bekam. Immerhin war es ja auch altes Bugholz! Ich nenne so ein stark restauriertes Stück mal Akkumulat, mal Komposit, weil es kein Fragment mehr ist.
Zur Eröffnung der Lord & Taylor´schen Thonetausstellung kam sogar Dr. Georg Thonet, der Chef des Konzerns, und kaufte einen Drehstuhl, den er bei mir für die Hälfte hätte bekommen können. Aber da wäre kein Pressefoto des stolzen Käufers mit dem Scheck dabei gewesen. Dafür war der Umweg über New York nötig.
Das hier abgebildete Stück ist ohne so weitgehenden Reparaturbedarf. Einige hilflose Notreparaturen, die z. B. mit Bolzen die aufgegangenen Leimfugen arretieren, müssen beseitigt werden und natürlich das Geflecht – das ist sehr fein, groß und teuer. Ich mache es nicht mehr – jeder muss sich selbst kümmern. Immerhin ist alles in geradem und nicht verzogenem Zustand, was mir mit 500 € honoriert werden soll, um als Käufer selbst Hand an die Restaurierung legen zu dürfen.